Schöne Geschichten – Die Anmut einer Mandarine

Die Anmut einer Mandarine

Von Pascale, Volontärin im Zentrum „Fountain of Life“ in Pattaya – Thailand

 

 

Vier Wochen lang wohnten zwei vietnamesische Frauen mit meiner Co-Volontärin und mir im vierten Stock des „Fountain of Life-Center“. Sie werden als Volontärinnen in einem Zentrum der „Schwestern vom Guten Hirten“ in Vietnam arbeiten. Sie sind von Beruf Masseurinnen und waren nach Thailand gekommen, um sich in der traditionellen Thai-Massage ausbilden zu lassen.

Niemand hatte uns vorher gesagt, dass sie kommen und wir sahen sie zum ersten Mal an einem Sonntagabend, als wir aus Bangkok zurückkehrten. Sie sprachen weder Englisch noch Französisch oder Thai, sondern nur Vietnamesisch. Wir mussten uns also mit Gesten und einem Lächeln verständigen.

Um offen zu sein: beide Frauen waren sehr zurückhaltend. Wir sahen sie nur mittags in der Küche bzw. im Speisesaal im Erdgeschoss, wo alle Volontäre um 11.30 Uhr gemeinsam zu Mittag essen. Abends aßen sie in ihren Zimmern. Ich war bald beeindruckt von der Gelassenheit, die sie ausstrahlten, und von ihrer Aufmerksamkeit für andere, trotz der Stille, die sie umgab, oder vielleicht gerade wegen dieser Stille. Sie tauschten sich kurz untereinander aus und schienen immer auf der gleichen Wellenlänge zu sein. Ich war selbst die Nutznießerin ihrer einfachen und feinfühligen Aufmerksamkeit.

 

 

Eine Mandarinengeschichte

Eines Morgens, als ich allein in der Küche frühstückte, kam eine von ihnen und holte etwas aus dem Kühlschrank hinter mir. Plötzlich sah ich, wie neben meiner Kaffeetasse ganz sanft eine frische Mandarine auftauchte. Die Zärtlichkeit, mit der diese Frau diese Frucht auf den Tisch legte, berührte mich und ließ mir die Tränen in die Augen steigen. Ich kann es nicht anders ausdrücken: Ich spürte bei dieser ganz einfachen Geste Liebe. Normalerweise esse ich kein Obst zum Frühstück, aber diese Mandarine schmeckte einfach himmlisch!

Ein anderes Mal, auch beim Frühstück, kam dieselbe Dame, ohne mich um etwas zu bitten, und massierte mir den Nacken und die Schultern. Diese Überraschung tat mir so gut, dass ich danach wieder einmal vor Dankbarkeit weinte. Abgesehen von der nicht zu unterschätzenden körperlichen Wohltat, war ich überwältigt von der Güte, die ich in ihren Gesten spürte. Ihre einzige Motivation war es, mir Gutes zu tun. Das spürte ich.

Erst am Tag vor ihrer Abreise konnte ich sie nach ihren Vornamen fragen. Sie heißen Hung und Dek. Mit Hung fühlte ich mich wegen der Mandarine mehr verbunden. Aber nun zum Epilog dieser Begegnung und ihrer Lehre, jedenfalls das, was ich davon begriffen habe!

 

 

Der Besuch der Engel

Beide vietnamesischen Besucherinnen wirkten auf mich wie Engel. Sie erinnerten mich an die Bibelstelle, in der Gott in Gestalt von drei Männern Abraham und Sarah an der Eiche von Mamre besucht (Genesis, Kapitel 18). Er bittet sie um ihre Gastfreundschaft, die nicht viel ist im Vergleich zu dem Segen, den der Herr Abraham und Sarah schenken wird: die versprochene Nachkommenschaft trotz ihres hohen Alters, die Geburt des Kindes der Verheißung.

 

 

Eine Lektion in Gastfreundschaft

Wir haben immer wieder über Gastfreundschaft gesprochen. Das Herz öffnet sich aber nur langsam und widerwillig! Trotz der Mandarine hatte sich meins schnell wieder geschlossen. Ich glaube, die Geschichte war einfach noch nicht zu Ende. Ich musste eine Lektion bekommen, die länger und eindeutiger sein sollte, damit ich sie verinnerlichen konnte.

 

Ja, die Anmut der Mandarine beeindruckte mich nicht mehr so sehr, als ich eines Morgens feststellte, dass die zurückhaltenden kleinen Damen sich regelmäßig an unseren Kaffee- und Teevorräten bedienten. Meine Packung mit Teebeuteln war fast leer, obwohl sie eine Woche zuvor noch voll gewesen war. Zufällig kam Hung genau in dem Moment in die Küche, als ich die Packung wieder schloss. Sie sagte etwas auf Vietnamesisch, das wohl so klang wie: „Ich kann doch etwas von dem Tee haben, oder?“, und ich antwortete mit einem „Ja“, das zugeknöpft genug klang, um anzudeuten, dass es mich ärgerte. Sie ließ es auf sich beruhen.

 

Auch Myriam hatte beobachtet, dass ihre Milchkaffeebeutel schneller als sonst verschwanden. Aber ihre Reaktion, die immer wohlwollend ist, war großzügiger als meine. Sie sagte: „Das ist unser kleiner Beitrag zur Gastfreundschaft!“ Ich wusste, dass sie recht hatte. Ich schämte mich wirklich für meinen Geiz. Ich hätte ihnen am liebsten alle meine Teebeutel gegeben. Die Gelegenheit bot sich jedoch nicht mehr, da es der Tag vor ihrer Abreise war. Hung war bis zum Schluss genauso freundlich wie zuvor. Ich sah immer wieder in ihre Augen und sie lächelte immer wieder aufmunternd.

 

 

Die Lehre der Mandarine

Zwei Tage, nachdem sie das Zentrum verlassen hatten, dachte ich beim Beten in der Kapelle an die Mandarine und die Wirkung, die sie auf mein Herz gehabt hatte. Dann erinnerte ich mich an meine Mutter und wie wir immer gemeinsam gefrühstückt hatten, als ich das letzte Mal bei ihr gewesen war. Diese gemeinsame Zeit war alles andere als gesellig, sondern aus vielen Gründen kompliziert und angespannt. Aber eine Frage stach mir ins Herz: „Hatte ich jemals eine kleine, frische Mandarine so liebevoll neben Mamas Tasse gelegt, wie Hung es für mich getan hatte?“ – Nein.

Unter Tränen verstand ich, dass dies die Lehre war, die ich von den kleinen Damen erhalten sollte. Für mich war die Gnade Gottes in Hungs Geste gegenwärtig, denn meiner Meinung nach kann nur sie uns verwandeln, nur sie kann ein Herz erreichen und es dazu bringen, schlechte Gewohnheiten zu ändern und ihm gute zu geben. Ihre Geste hat mein Herz bekehrt und es auf die zweite Stufe der Liebe ausgerichtet: das Geben.

Ich muss nun das Gleiche tun. Ich muss kleine Mandarinen mit Liebe verschenken. Der erste Schritt ist die Liebe Gottes zu mir. Er hat sie mir gezeigt, indem er Hung zu ihrer Geste inspirierte. Sie ließ ihn an sich vorbeiziehen. Ich habe sie empfangen und verstanden. Nun muss ich es Hung gleich tun. Diesen kleinen Prozess der Gnade nachzuvollziehen, ist ein reines Glück. Aber sehr anspruchsvoll, denn er erfordert die Teilnahme des Herzens und dass es von Liebe erfüllt ist. Es ist eine Alchemie, die wir nicht beherrschen, aber der Herr weiß genau, wie es gemacht werden muss. Er ist die Quelle, aus der ich die Liebe schöpfen kann, die ich brauche, um meine kleinen Mandarinen abzugeben. Diese Mission ist international, und ich werde sie nach meiner Rückkehr nach Frankreich fortsetzen können.

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